
Viele Jahrzehnte hatte die deutsche Automobilindustrie die Technologieführerschaft für effiziente Verbrennungsmotoren mit geringem Schadstoffausstoß und für hochpräzise arbeitende Getriebe inne und wurde damit wirtschaftlich sehr erfolgreich. Haben vielleicht gerade diese besondere Leistungsfähigkeit und der damit verbundene Erfolg zu einer Verharrung und einer Blindheit für den Wechsel zur Elektromobilität geführt, die sich in der Automobilindustrie bereits seit 20 Jahren abzeichnen?
Die rasante technische Entwicklung der Elektromobilität ist nicht irgendeine Weiterentwicklung bestehender Technologien. Sie ist dabei, das Verbrennerkonzept zu verdrängen und entwertet dadurch das Know-how für diese Schlüsseltechnologie zur Produktion von Verbrennungsmotoren und Getrieben. Darüber hinaus macht sie etablierte Lieferketten und die Ressourcen obsolet, die zur Produktion dieser Kernstücke des Ingenieurwesens im deutschen Automobilbau erforderlich gewesen sind. Die deutsche Automobilindustrie scheint den Anschluss an die aktuelle Entwicklung verpasst zu haben.
Das hat Folgen für die Systemlieferanten (1st-tier suppliers) und die Komponentenlieferanten (2nd-tier suppliers), die ihre Auftraggeber sehenden Auges verlieren.
Manche deutsche Automobilhersteller ziehen sich sogar bereits aus dem Geschäftsfeld mit Elektromobilität zurück. Das wiederum zieht nach sich, dass in Deutschland die Arbeiten zur Herstellung von Komponenten für fossile Antriebssysteme nicht durch andere Arbeiten zur Herstellung von Komponenten für Elektroantriebssysteme ersetzt werden. Sofern es den betroffenen Betrieben nicht gelingen sollte, sich komplett umstellen, wird dieser künftige Entfall von Betriebsleistung in Deutschland zu einem Sterben von Komponentenherstellern, Maschinenbauern und industrienahen Dienstleistern führen. Während das Geschäft vieler Systemhersteller global aufgestellt und dadurch robuster ist und die Weichen in Richtung der Elektromobilität parallel zum Stammgeschäft mit fossilen Antriebssystemen gestellt sind, stehen viele Komponentenhersteller in Deutschland also vor der großen Herausforderung, ihr Geschäft komplett umzustellen.
Für eine solche Umstellung ist das Geschäftsmodell von Komponentenlieferanten kritisch zu hinterfragen und ihre strategische Linie neu auszurichten. Hohe Stückzahlen, wie sie die Automobilindustrie abnimmt, werden in kaum einer anderen Abnehmerbranche zu erreichen sein. Deshalb erfordert eine Umstellung voraussichtlich einen Shift von der Großserienfertigung zu Kleinserienfertigung. Modular aufgebaute Produktkonzepte werden entsprechend an Bedeutung gewinnen. Ganz andere Produktionsanlagen werden benötigt werden, bei denen die Rüstzeitenoptimierung im Vordergrund steht. Und nach ggf. jahrzehntelanger Lieferung in bestehende Standorte der Automobilindustrie wird auch der zügige Zugang zu attraktiven neuen Märkten eine entscheidende Rolle spielen. Ein gut funktionierendes Innovationsmanagement wird gebraucht. Das alles umzusetzen, ist für eine Organisation sehr anspruchsvoll. Vor allem darf die Transformation aber nicht zu spät eingeleitet werden, weil sich das Fenster der Möglichkeiten mit fortschreitender Zeit schließen wird. Gefordert ist Business Development at „China speed“.
Mit unserer Erfahrung in der Transformation und im Turnaround von Industrieunternehmen, die sich u. a. im Fachbuch von Dr. Boysen über die nachhaltige Bewältigung von Unternehmenskrisen, erschienen im Februar 2025 bei Haufe, reflektiert, stehen wir Ihnen gern zur Seite.